Orcas vor Lofoten, Norwegen | Foto: Rene at Danish Wikipedia, Lizenz: public domain

Inzucht bei wilden Delfinen in der Natur

Exklusiv für zoos.media – 17.07.2017. Autor: Philipp J. Kroiß

Es gibt viele Desinformationen über Inzest und Inzucht bei Delfinen, die auch für wilde Populationen wissenschaftlich beschrieben ist. Diese Ergebnisse müssen natürlich auch bei der Haltung im Zoo berücksichtigt werden.

Inzucht bei Delfinen in der Wildbahn

Im Zusammenhang mit dem Inzucht-Vorwurf gegen die Berliner Pandas haben wir auch schon über Inzucht im Allgemeinen gesprochen und dass dies auch in der Natur vorkommt. Auch bei Delfinen geschieht es in der Wildbahn.

Weiße Orcas und Inzucht

Weißer Schwertwal bei Volcano (Zentral-Aleuten) | Foto: Holly Fearnbach (NOAA), Lizenz: public domain

Es gibt Orcas, die nicht nur partiell weiß sind, sondern quasi komplett (siehe Foto rechts). Dies kommt selten vor. In Russland aber gibt es so eine ungewöhnliche Häufung, dass Wissenschaftler vermuten, dass es im russischen Nord-West Pazifik eine Inzuchtproblematik gibt.

Eine ungewöhnlich starke Häufung weißer Schwertwale ist natürlich ein sehr offensichtliches Zeichen. Wesentlich weniger offensichtlich ist Inzucht bei den Orcas von Puget Sound. Die stammen, so Wissenschaftler, von nur einer Hand voll männlichen Tieren ab. Die mangelnde genetische Varianz könnte sich zu einem Problem der ohnehin schon mit großer Sorge betrachteten Population entwickeln.

Die Inzucht aber ist kein lokales, sondern ein globales Phänomen. Hoelzel et al. (2002) beschrieben wissenschaftlich die geringe genetische Diversität von Schwertwalen. Grund könnte ein sogenannter “genetischer Flaschenhals” gewesen sein, durch den die Art schreiten musste.

Große Tümmler sind ebenfalls “anfällig”

Wilder Großer Tümmler: Er hat eine geringe Lebenserwartung als seine Artgenossen in modernen Zoos. | Foto: Rene at da.wikipedia, Lizenz: gemeinfrei

Für die Großen Tümmler, die wild in East Shark Bay (Australien) leben, konnte von Frerè et al. (2010) eine Anfälligkeit für Inzucht wissenschaftlich nachgewiesen werden. In der Population gibt es Mutter-Sohn-, Vater-Tochter- und Geschwister-Verpaarung. Fruet et al. (2013) konstatierten eine “bemerkenswert niedrige genetische Vielfalt” für Große Tümmler im Süd-West Atlantik. Eine Population wies bei der Untersuchung sogar einen Inzuchtkoeffizienten von 0,28 auf.

Was diese Ergebnisse zeigen, ist, dass die Inzuchtvermeidung bei Delfinen nicht immer zuverlässig funktioniert. Dadurch, dass sie Familienverbände ausbilden, sind die Tiere auch noch besonders anfällig für Inzuchtfälle, wenn nicht ausreichender Austausch stattfindet oder stattfinden kann.
Man muss sich sicherlich von der romantischen Idee verabschieden, dass es eine Art “Familiy Spirit” bei Delfinen gibt, der sie zusammenhält. Delfingruppe sind meist Zweckgemeinschaften, da viele Formen und Ökotypen auf kooperative Jagd angewiesen sind. Es ist dabei zu beobachten, dass selbst Delfin-Mütter mit ihrem männlichen Nachkommen, bei denen man eigentlich vermuten könnte, dass zumindest die Mutter noch ihre Geburt reflektiert, inzestuöse Verbindungen eingehen. Ob dies aus Versagen oder sogar völlig beabsichtigt geschieht, weiß man allerdings nicht.

Dunkelziffer unbekannt

Während man bei vielen Kälber eine Chance hat, die Mütter zu ermitteln, bleibt der Vater den Beobachtern unbekannt. Erst genetische Analysen der Tiere lassen einen Rückschluss auf Verwandtschaftsbeziehungen zu. Diese sind teuer und längst nicht bei allen Populationen möglich. Wie hoch also die Dunkelziffer ist, kann man schwer sagen – wohl aber eine Signifikanz der bisherigen Ergebnisse belegen.

Allerdings ist klar, dass Inzucht in der Natur geschieht und eine Vermeidung innerhalb von Delfingruppen nicht zuverlässig funktioniert. Dies sind wichtige Informationen, um das Verhalten der Tiere in Menschenobhut zu evaluieren und darauf auch entsprechende Rückschlüsse für Management der zu ziehen.

Hierbei muss man wissen, dass es sich ausschließlich um Inzucht im eigentlichen Sinne handelt – häufig wird von der Öffentlichkeit jede geschlechtliche Verpartnerung von Verwandten als Inzest bezeichnet. Von Inzucht spricht man allerdings nur bei sehr nah Verwandten: Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, und deren Kindern, Enkeln, Urenkeln – sowie zwischen Voll- und Halbgeschwistern. Entferntere Verwandtschaftsgerade, wie etwa der von Cousin und Cousine, werden nicht als Inzucht juristisch verfolgt oder überhaupt klassisch so bezeichnet. Landläufig kann es deshalb zu Missverständnissen kommen. Würde man also diese Verwandtschaftsbeziehungen auch noch in die Forschung nehmen, würden wahrscheinlich weitere genetische Verpflechtungen aufgedeckt.

Management in Menschenobhut

Nalani und Trua in SeaWorld Orlando 2011 | Foto: Gordon2448, Lizenz: CC BY-SA 3.0

Genauso wie in der Wildbahn gibt es auch in Menschenobhut Fälle von Inzucht bei Schwertwalen in westlichen Haltungen. Aktuell sind es zwei: Nalani, die Tochter von Katina, hat ihren Bruder zum Vater, der Sohn des Schwertwals Tilikum ist. Sie lebt aktuell in SeaWorld Orlando. Keijo befindet sich aktuell im Marineland Antibes und seine Eltern Wickie und Valentin sind Halbgeschwister mit der gleichen Mutter (Kim II).

Inzucht passiert in der Wildbahn und so ist es kein Wunder, dass es auch in Menschenobhut passieren kann. Es handelt sich aber um zwei “Unfälle”, denn eigentlich zielt man darauf ab, Inzucht in Menschenobhut zu vermeiden, um aus den bereits in Obhut gehaltenen Tieren die größtmögliche genetische Varianz zu generieren, damit man so wenig Tiere wie möglich aus der Wildbahn entnehmen muss und die Zuchtpopulation selbsterhaltend ist. Das ist besonders wichtig, wenn man Tiere Populationen entnehmen müsste, die ohnehin schon gefährdet sind. Ebenso wird die Inzuchtvermeidung oder -verminderung wichtig, wenn es in Artenschutzprojekten nur noch eine gewisse Anzahl von Tieren gibt, die durch einen “genetischen Flaschenhals” gehen muss, um überhaupt zu überleben. Es ist nämlich möglich eine gesunde Population auf wenigen Gründertieren aufzubauen, aber eben nur durch umsichtig geplante Zucht.

Wildes Orca-Weibchen (Antarctic Type B) übersäht mit sog. Rake Marks | Foto: Robert Pitman (National Science Foundation Office of Polar Programs), Lizenz: public domain

So ist es auch zu erklären, dass manchmal erwachsene bzw. geschlechtsreife Nachkommen von ihren Elterntieren getrennt werden müssen, um Inzucht zu vermeiden. Irgendwann ist nämlich auch für die Delfin-Mutter die sprichwörtliche “Frucht ihrer Lenden” eben nur noch ein von ihr unabhängiger Delfin unter vielen – so wie es für den Vater dann auch ist. Damit es dann nicht zur Inzest kommt, ist es sinnvoll eine Separation zu implementieren. So geschieht das, was im Idealfall für die genetische Diversität, auch in der Wildbahn geschehen würde: das Tier schließt sich einer anderen Gruppe an. Meist ist das kein Problem; wie bei hierarchisch organisierten Gruppen wird es erstmal Rangfolge-Verhandlungen geben, aber auch diese sind in der Wildbahn völlig normal.

Mit den wissenschaftlichen Fakten vor sich, muss man sich also von so mancher romantischer Vorstellung verabschieden, die einem vielleicht gut gefällt. Aber es steht fest, dass bei allen Tieren in modernen Zoos eine artgemäße Inzuchtvermeidung oder -verringerung möglich ist. Zoogegner versuchen das Gegenteil zu behaupten und ignorieren dabei die Fakten – Inzucht wäre angeblich “unnatürliches Verhalten” “gefangener” Tiere und deren Vermeidung sei Tierquälerei und würde Sozialverbände zerstören. Das ist falsch. So hat Dr. Kathleen Dudzisnki, einer renommierte Expertin, das Sozialverhalten von Delfinen in Menschenobhut und der Wildbahn vergleichend erforscht und konnte diesbezüglich “keinen Unterschied” zwischen seriös gehaltenen Delfinen in Menschenobhut und wilden Tieren finden.

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