Teilnehmer des Workshops „Assessment of welfare of marine mammal species in zoological parks“ am 4. Mai im Nürnberger Tiergarten. Quelle: Tiergarten Nürnberg

Wann fühlt ein Wal sich wohl?

Exklusiv für zoos.media – 10. Mai 2016. Autor: Michael Miersch

In Nürnberg trafen sich erstmals Wissenschaftler, Tierärzte, Zoo-Mitarbeiter, Behördenvertreter und sogar Anti-Zoo-Aktivisten, um zu beraten, wie man am besten herausfinden kann, ob es Meeressäugern in Menschenobhut gut geht.

Moby hat schon viel erlebt. Der Große Tümmler ist einer der letzten Wildfänge in westeuropäischen Zoos, ein Methusalem seiner Art, der seit mehr als vier Jahrzehnten in Nürnberg residiert. Ein besonderes Jahr war für ihn 2011. Da schwamm er erstmals hinaus in das neue, große Wasserfreigehege für Delfine und Seelöwen. Seither kann er gemeinsam mit seinen Artgenossen und den Robben nicht nur durch verschiedene weiträumige Becken tauchen, sondern sondern sieht durch eine kinoleinwandgroße Glasscheibe auch die staunenden Gesichter der Zoobesucher.

Am 4. Mai 2016 fand vor dieser imposanten Glaswand unter Mobys Augen eine besondere Tagung statt. Menschen, die Delfine pflegen, betreuen und trainieren saßen friedlich in einem Raum mit Aktivisten, die Delfinarien am liebsten sofort verbieten würden – dazwischen Verhaltensforscher, Tierärztinnen und andere Expertinnen und Experten. Ziel dieser ungewöhnlich toleranten und offenen Runde war es, Kriterien festzuhalten nach denen künftig festgestellt werden soll, ob sich Meeressäugetiere in Menschen Obhut wohlfühlen.

Denn es ist nach wie vor schwierig herauszufinden, ob ein ewig lächelnder Delfin still trauert oder ein scheinbar vergnügt bellender Seelöwe innerlich leidet. Einigkeit herrschte bei den Wissenschaftlern lediglich darüber, dass tierischen Verhaltens oftmals fehlinterpretiert wird.

„Tierwohl ist einer Prüfung unserer Humanität.“

Was kann man tun, um die Bedürfnissen von Wesen zu erkennen, deren Sinneswelt sich von der menschlichen radikal unterscheidet? Wie anders die Wahrnehmung der Meeressäuger ist, erforscht der Rostocker Zoologe Guido Dehnhardt. Robben, so konnte er nachweisen, detektieren beispielsweise mit ihren Tasthaaren geringste Wasserbewegungen. In Nürnberg demonstrierte Dehnhardt, dass Große Tümmler einen elektrischen Sinn besitzen. Er ist in den kaum sichtbaren Follikeln auf ihrer Schnauze versteckt, die einst bei ihren evolutionären Ahnen Haarwurzeln umschlossen.

Der tschechische Europaabgeordnete Pavel Poc, der der für Tierschutz zuständigen Arbeitsgruppe im EU-Parlament vorsitzt, bedauerte, dass es bis heute keine gesetzlichen Kriterien für Tierwohl gibt. Ein Mangel, der schleunigst beseitigt werden sollte. Denn, so Poc, „Tierwohl ist einer Prüfung unserer Humanität.“ Das Beste, was aus Pocs Sicht, die auch viel Wissenschaftler teilen, derzeit zur Verfügung steht, seien immer noch die „Fünf Freiheiten“, die bereits in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts vom britischen Farm Animal Welfare Council (FAWC) entwickelt wurden:

  • Freiheit von Hunger und Durst
  • Freiheit von haltungsbedingten Beschwerden
  • Freiheit von Schmerz, Verletzungen und Krankheiten
  • Freiheit von Angst und Stress
  • Freiheit zum Ausleben normaler Verhaltensmuster

Manchmal jedoch widersprechen sich die „Fünf Freiheiten“ gegenseitig, kritisierte Anastasia Komnenou. „Eine Tier hat Angst,“ gab die Tiermedizinerin von der Universität Saloniki zu bedenken, „wenn man es medizinisch behandelt, um eine Krankheit zu heilen.“ Sie wies darauf hin, dass auch Stress kein Zeichen für Unwohlsein sein muss. Was ihre Forscherkollegen im Saal bestätigten.

Tierwohl ist kein feststehendes Konzept

Der kurzzeitige Anstieg des „Stresshormons“ Cortisol im Blut kann einerseits Angst und Leid signalisieren, andererseits auch frohgestimmte Erwartung und freudige Erregung. Wissenschaftlich bewiesen sei lediglich, so Komnenou, dass Langzeitstress ein schlechtes Zeichen ist und ein Hinweis darauf, dass die Haltungsbedingungen nicht stimmen.

Wie schwierig es ist, anhand von Cortisol-Messungen auf falsche Tierhaltung zu schließen, erläuterte Heather J. Bacon von der Universität Edinburgh. „Tierwohl ist ein Kontinuum, kein feststehendes Konzept,“ betonte sie, „Kriterien für Wohlbefinden können extrem individuell sein.“ Dem Stimmte auch Norbert Sachser von der Universität Münster zu: „Cortisol-Messungen müssen stets mit Verhaltensbeobachtungen kombiniert werden.“

Dass sich Tierhaltung nicht unbedingt an den natürlichen Bedingungen orientieren sollte, unterstrich Sachser mit den Worten, „die Natur sorgt nicht für Tierwohl, die meisten Individuen sterben früh und haben viel Stress.“ Das wollte Ingrid Visser vom neuseeländischen Orca Research Trust so nicht stehen lassen: „In der Natur können Tiere, die gemobbt werden abwandern. Das können sie im Zoo nicht.“

Tiere, die spielen, fühlen sich wohl

Dass Vermenschlichung immer wieder zu Fehlschlüssen führt, betonte der Neurobiologe Onur Güntürkün von der Universität Bochum. So haben vergleichende Untersuchungen an Legehennen gezeigt, dass es den Hühnern in der von vielen Menschen als tierfreundlich betrachteten Freilandhaltung überraschend schlecht ergeht. Andererseits können Haltungsmerkmale, die die meisten Laien als nicht besonders schlimm beurteilen würden, für Tiere extrem unangenehm sein: beispielsweise Gehege, in die die Besucher von oben blicken können. „Tiere,“ so Güntürkün, „ werden oftmals gleichzeitig über- und unterschätzt.“

Dennoch waren sich die Experten über einige Merkmale einig, von denen auf das Wohlbefinden von Delfinen und anderen Meeressäugern geschlossen werden kann. Tiere die spielen, fühlen sich in der Regel wohl. Auch wenn sie, ohne durch Futter angelockt zu werden, freiwillig Kontakt zu ihren Pflegern suchen, ist dies ein gutes Signal. Ebenso kann man bei manchen Verhaltensmustern relativ sicher auf Leiden schließen. Dazu zählen beispielsweise Apathie, Mangel an Selbstpflege und Futter-Verweigerung.

Auch darüber, dass „Behavioural Enrichment“ (Verhaltensanreicherung, etwa durch Spielmaterial oder Verstecktes Futter) zum Wohlbefinden beiträgt, waren sich die Experten weitgehend einig. Delfine beispielsweise brauchen mehr Sinnesreize am Grunde ihrer Becken und weniger schwimmendes Spielmaterial, so Heather J. Bacon. Denn in freier Natur stöbern sie zwischen Wasserpflanzen und in sandigen Böden nach Essbarem.

Es besteht großer Forschungsbedarf

Konsens herrschte auch darüber, dass noch viel Forschungsbedarf besteht. Als besonders hilfreich schätzten die Wissenschaftler sogenannte Präferenztests ein. Dabei wird geprüft, wie viel Mühe ein Tier bereit ist zu investieren, um eine bestimmte Veränderung seiner Umwelt herbeizuführen.

„Wir wollen,“ so formulierte der Nürnberger Zoodirektor Dag Encke das gemeinsame Anliegen, „unserer menschlichen Verantwortung für Tiere gerecht werden.“ Wenn sich Wissenschaftler, Zoo-Mitarbeiter und Zoo-Kritiker auf Tierwohl-Indikatoren einigen könnten, wäre dies ein großer Schritt zu mehr Humanität.

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