Loris in der Zuchtstation der Loro Parque Fundación | Foto: zoos.media

„Zoos sind ein Segen für die Gesellschaft“

Erschienen in DIE WELT am 15. August 2009. Autor: Michael Miersch

Der Schweizer Zoologe Jürg Meier hat den ein Handbuch geschrieben, das einen Überblick über den Stand des heutigen Zoo-Wissens verschafft. In diesem Interview spricht Müller über die Bedeutung der Zoos. Dabei betont er die wichtige Bildungsaufgabe der Zoos. Denn nur hier kann Wissen spielerisch vermittelt werden.

DIE WELT: Fernsehen und Kino zeigen immer perfektere Tierfilme. Wozu braucht man noch Zoos?

Meier: Tierfilme sind wunderbar, doch man kann die Elefanten auf dem Bildschirm nicht riechen. Das bietet nur der Zoo.

Immer mehr Menschen können sich Fernreisen in die Naturgebiete der Welt leisten, wo sie Tiere in Freiheit erleben.

Meier: Es sind nach wie vor Minderheiten, die solche Reisen unternehmen. Zoos leiden auch im 21. Jahrhundert nicht unter Publikumsmangel. 125 Millionen Menschen besuchen jedes Jahr allein in Europa einen Zoo. 2008 waren es allein in den beiden Berliner Zoos vier Millionen, in Zürich und Basel zusammen 3,4 Millionen.

Sind Zoos aus Ihrer Sicht kulturelle Einrichtungen wie Theater und Museen, oder Freizeitparks mit Tieren?

Meier: Zoos sind die erfolgreichsten und wahrscheinlich die günstigsten kulturellen Institutionen. Ihre Bedeutung kann man gar nicht überschätzen. Sie sind in mancher Hinsicht ein Segen für die Gesellschaft. Zu Beispiel gehören sie zu den wenigen sozialen Orten, zu denen Familien noch gemeinsam hingehen. Und sie sind die populärsten Bildungsstätten.

Der Bildungsauftrag ist doch eine Illusion. Die Leute lachen über die Affen, freuen sich über die Seelöwen-Dressur und lernen gar nichts dabei.

Meier: Zugegeben, die meisten Menschen gehen einfach in den Zoo, um Tiere zu sehen und ein paar Stunden Erholung zu genießen. Wer allerdings nach dem Zoobesuch auch nur ein Tier erkennen und benennen kann, das er vorher nicht gekannt hat, hat bereits etwas gelernt. Übrigens: Wenn Menschen über Affen lachen, lachen sie auch über sich selbst – und lernen durchaus etwas über menschliches Verhalten.

Wie könnte man den Bildungsauftrag von Zoos verbessern?

Meier: Die Kunst besteht darin, den Besuchern Wissen auf spielerische Weise zu vermitteln. Das ist bei einem so heterogenen Publikum natürlich eine große Herausforderung.

Wie könnte es gelingen?

Meier: Ungezwungene Wissensvermittlung für alle Zoobesucher wird zum Beispiel durch so genannte „Keeper-Talks“ erreicht. Zu einer festgelegten Zeit steht eine Tierpflegerin oder ein Tierpfleger vor dem Gehege und gibt den Zoobesuchern Auskunft. Von amerikanischen Zoos können wir lernen, wie man Freiwillige vermehrt in die Wissensvermittlung einbezieht. Kurze, mitreißende Vorträge vor einem Gehege verankern die Information über das Tier weit besser als irgendwelche Informationstafeln. Das Konzept so genannter „Themenwochen“ scheint mir in Zoos noch zu wenig entwickelt. Warum den Zoo nicht einmal unter dem Aspekt „Ernährung“, „Tarnung“ oder „Fortbewegung“ durchstreifen?

Verlieren Tieren im Zoo nicht ihre Würde?

Meier: Wir nehmen den Tieren allenfalls die Würde, weil wir ihre Lebensräume global zerstören und sie immer weiter zurückdrängen.

Tierrechtler sagen, Zoos seien Freiheitsberaubung.

Meier: Tiere leben in Raum-Zeit-Systemen, denen sie auch in der so genannten „freien Wildbahn“ unterworfen sind. Das heißt, Tiere gehen nicht spazieren. Ihr Tagesablauf ist geregelt und sie halten sich zu gewissen Tageszeiten an gewissen Orten bevorzugt auf. Gehen Sie mal mit einem Wildhüter auf Pirsch. Der kann Sie zu jeder Tageszeit mit hoher Wahrscheinlichkeit an die Orte führen, wo sich die Tiere „in Freiheit“ gerade aufhalten. Werden Tiere in Zoos ihren Bedürfnissen entsprechend gehalten und ist ihr Gehege entsprechend eingerichtet, fühlen sie sich nicht als Gefangene. Der große Zoologe Heini Hediger brachte es auf den Punkt, als er sagte, Zootiere fühlen sich als Grundbesitzer.

Nähren Zoos die Illusion einer heilen Welt, während draußen die Natur immer mehr zerstört wird?

Meier: Den Vorwurf kann man so gelten lassen. Allerdings ist es ja wohl nicht die Existenz von Zoos, die der Zerstörung unserer Natur Vorschub leistet. Heute werden fast keine Tiere mehr für Zoos gefangen. Zoos sind ein Leitbild. Wer dort einen Eindruck von der Schönheit der Natur gewonnen hat, wird Zerstörungen nicht mehr so leicht hinnehmen.

Zoos argumentieren gern mit ihrem Beitrag zum Artenschutz. Sind ihre Möglichkeiten nicht viel zu begrenzt, um bedrohte Tierarten wirklich zu retten?

Meier: Es gibt doch bereits Dutzende von Beispielen, wo das erfolgreich getan wurde. Nehmen Sie den Bali-Star, einen schönen, weißen Vogel mit blau eingerahmten Augen. Auf Bali existieren wahrscheinlich nicht mehr als zwanzig Exemplare. Die weltweite Zoopopulation beträgt heute etwas über 800. Dass wir im Alpenraum wieder etwa 30 bis 40 000 Steinböcke haben, verdanken wir der erfolgreichen Wiederansiedlung von Zootieren. Daneben unterstützen viele Zoos heute Naturschutzbemühungen in armen Ländern mit beträchtlichen finanziellen Beiträgen. Mit ihrem Eintrittspreis zahlen Besucher also direkt für Artenschutzprojekte.

Das Aussehen der Zoos hat sich in den letzten 30 Jahren radikal gewandelt. Sind die schönen, modernen Zoos wirklich besser, oder haben sie nur bessere Kulissen, die eine Illusion von Natur erzeugen?

Meier: Unsere Vorstellungen von guter Tierhaltung unterliegen ständig Änderungen. Der Zoo Basel beispielsweise, den ich am besten kenne, war vor dreißig Jahren – gemessen an den damaligen Vorstellungen von guter Tierhaltung – nicht besser oder schlechter als heute. Er war anders. Lassen Sie mich ein Beispiel aus einem völlig anderen Bereich nehmen. Ich ging in die Volksschule in eine Klasse mit 41 Schülern. Nach heutigen Erkenntnissen moderner Pädagogik muss ich einen psychischen Schaden haben, weil ich unter – aus heutiger Sicht – völlig abnormen Verhältnissen zur Schule ging. Dennoch fühle ich mich leidlich „normal“. Meine Kinder gingen alle in Klassen mit weniger als 25 Kindern zur Schule. Ob sie deshalb weniger „schadhaft“ aufgewachsen sind als ich, kann ich nicht beurteilen. Ist Schule heute besser als gestern?

Sind Gitter schlecht?

Meier: Gute Zooarchitektur orientiert sich an den Erkenntnissen über das Tier und versucht dessen Bedürfnisse so gut wie möglich zu erfüllen. Dazu kann es durchaus gehören, dass man das Gehege mit einem Zaun begrenzt. Was aus der Sicht mancher Tierfreunde dann wieder mit „eingesperrt sein“ gleichgesetzt wird.

Woran kann man feststellen, dass es den Tieren heute besser geht als in den alten Käfigzoos?

Meier: Leider können wir sie nicht direkt fragen. War das Kriterium „Fortpflanzung“ vor fünfzig Jahren noch ein Indiz für gute Tierhaltung, sind wir diesbezüglich heute skeptischer und sagen eher: Wenn sich die Tiere fortpflanzen, sind die Minimalanforderungen an ihre Lebensweise erfüllt. Ich denke aber schon, dass unser wachsendes Wissen über das Tierleben in freier Wildbahn es den Fachleuten heute erleichtert, die Kriterien für das Wohlergehen der Tiere zunehmend objektiver festzulegen.

Was sind Kriterien für einen guten Zoo?

Meier: Lothar Dittrich, der frühere Direktor des Zoos Hannover hat einmal fünf Kriterien für gute Tierhaltung definiert. Die halte ich nach wie vor für sehr zutreffend. Erstens: Die Gesamtkondition der Tiere muss, abgesehen von altersbedingten Abbauerscheinungen, unverändert gut sein. Zweitens: Aktions- und Reaktionsfähigkeit der Tiere müssen erhalten bleiben und – wenn auch räumlich begrenzt – in allen Ausprägungen möglich sein. Drittens: Die Tiere müssen in Haltungssystemen in Fortpflanzungsstimmung kommen, sich dort fortpflanzen und ihre Jungen ohne menschliche Hilfe aufziehen. Viertens: Die Tiere müssen älter werden als ihre frei lebenden Artgenossen. Fünftens: Psychische Störungen müssen bei den Tieren dauerhaft unterbleiben.

Wie wichtig ist geistige Anregung für Tiere?

Meier: Zootiere sind vor Fressfeinden weitgehend geschützt und müssen sich ihre Nahrung nicht selbst beschaffen. Damit fallen zwei Lebensaspekte weg, die das Tier im Freileben praktisch rund um die Uhr in Anspruch nehmen. Das Zootier gewinnt also an „Freizeit“. Der dadurch möglichen „Langeweile“ beugt man im Zoo vor und bietet den Tieren Verhaltensbereicherung. Dies geschieht zum Teil mit ganz einfachen Mitteln: Man versteckt beispielsweise die Nahrung einfach über das ganze Gehege verteilt. Schon sind die Tiere mit der Suche nach Fressbarem stundenlang beschäftigt.

 Woran kann ich als Besucher einen guten Zoo erkennen?

Meier: Ein moderner Zoo soll nicht wie ein altertümliches Museum gestaltet sein, also nicht einfach Gehege an Gehege, geradlinig aneinandergereiht. Und die Tiere sollten einen gesunden Eindruck machen.

 Gibt es Tierarten, die man einfach nicht in Zoos halten sollte?

Meier: Vorbehalte habe ich persönlich bei Waltieren – vor allem aus Platzgründen. Es ist einfach schwierig, den Tieren genügend große Wasserräume zur Verfügung zu stellen. Außerdem ist es kaum möglich, solche Tiere auch nur annähernd in ihrer natürlichen Gruppengröße zu halten. Andererseits gilt auch hier: Was wüssten wir über diese Tiere, hätten wir sie nicht über Jahrzehnte in Zoos und Delfinarien gehalten?

Zu den elementaren Lebensäußerungen von Raubtieren gehört der Beutefang. Doch in deutschen Zoos sind nicht einmal Fische im Wassergraben der Bären erlaubt. Was halten Sie davon?

Meier: In der Schweiz ist dies möglich. Man darf aber eines nicht vergessen: Raubtiere müssen den Beutefang erlernen. Das ist unter Zooverhältnissen – besonders bei großen Beutegreifern und großen Beutetieren – nicht möglich. Was ich allerdings sehr begrüße ist, wenn man Löwen, Tigern und anderen öfters ein ganzes, frisch getötetes Tier auf die Anlage legt. Beutezerlegung bereichert die Nahrungsaufnahme solcher Tiere ungemein und schadet niemandem.

Wie werden die Zoos der Zukunft aussehen?

Meier: Sagen Sie mir, wie die Menschen in fünfzig Jahren „gute Tierhaltung“ definieren und ich sage Ihnen, wie der Zoo der Zukunft aussehen wird. Ich hoffe, dass Aufmerksamkeit, Neugier und Ergriffenheit auch in Zukunft vom lebenden Tier hervorgerufen werden. Und die zentrale Stellung der Tiere nicht von billiger Effekthascherei und Jahrmarktatmosphäre herabgemindert wird.

 Welcher ist Ihr liebster Zoo?

Meier: Ich versuche überall, wo ich hinkomme, den Zoo zu besuchen und finde in jedem sehenswerte Bereiche: Jeder Zoo bereichert meine Liebe zum Zoo. Emotional hänge ich natürlich seit meiner Kindheit am meisten am Basler Zoo. Wir nennen ihn zärtlich unser „Zolli“.

 

Jürg Meier, Handbuch Zoo. Haupt Verlag, Bern 2009, 230 Seiten, 38,50 Euro

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